Interview mit Jörg Beckmann
Fokusthema «e-Mobilität»
Jörg Beckmann leitet als Direktor die Geschäfte der Mobilitätsakademie AG, einer Tochtergesellschaft des Touring Club Schweiz. Seit 2012 ist der promovierte Verkehrssoziologe zudem Geschäftsführer des Verbandes Swiss eMobility.
Die Mobilitätsakademie als Think- und Do-Tank fördert die Entwicklung und den gesellschaftlichen Diskurs über den Strukturwandel des Mobilitäts- und Verkehrssektors mit seinen drei zentralen Trends: Die Dekarbonisierung und Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs, den Zusammenhang zwischen Shared Economy und der Deprivatisierung individueller Mobilitätswerkzeuge sowie die Demotorisierung urbaner Verkehre mit einer Renaissance des Velos. Verschiedene Projekte und Programme, in welchen sich die Mobilitätsakademie in Zusammenarbeit mit schweizerischen und internationalen Partnern engagiert, haben zum Ziel, diese tiefgreifenden Veränderungen nachhaltig zu gestalten.
Herr Beckmann, die Mobilität der Menschen, welchen Stellenwert sie hat und wie wir sie nutzen, ist im Wandel begriffen. Welche Veränderungen in den letzten 20 Jahren konnten Sie feststellen? Eine grosse Transformation der Mobilität konnten wir vor allem in den letzten zehn Jahren feststellen. Mit der klimapolitischen Abkehr von fossilen Brennstoffen und der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle im Bereich Mobilität lassen sich drei zentrale Transformationspfade ausmachen, die zusammen mit vielen anderen Trends die Gesellschaft kolossal wandeln. Der erste Transformationspfad ist die Elektrifizierung von Mobilitätswerkzeugen und die damit einhergehende Digitalisierung von Energie. Wo früher der Verbrennungsmotor mit Benzin als sehr analogem Treibstoff in Kanistern und Schläuchen vorherrschte, halten heute elektrisch betriebene Fahrzeuge Einzug in den Markt. Den Startschuss hierfür hat Tesla mit dem gegenüber anderen Automobilherstellern ganz anderen Geschäftsmodell gegeben, als das erste elektrifizierte Tesla-Fahrzeug das Fliessband verliess. Dies hat den Trend der Dekarbonisierung weiter befeuert. Der Verzicht auf fossile Brennstoffe ist mittlerweile in fast allen Ländern weltweit politisch mit den Klimazielen abgestützt. Das wirkt sich natürlich auch auf den Verkehrssektor aus. Der zweite grosse Transformationspfad zeichnet sich beim Einzug neuer Geschäftsmodelle auf den Markt ab, und das in allen Branchen. Ein sehr aktuelles Geschäftsmodell ist die Sharing Economy, bei welcher vorhandene Ressourcen mit vielen Personen geteilt werden. Es gibt also einen starken Trend hin zur Deprivatisierung. Gerade bei der Mobilität verzichten immer mehr Leute auf ein eigenes Personenfahrzeug und nutzen verschiedene Shared Mobility-Angebote. Für die Nutzer hat das den Vorteil, dass sie sich keine Gedanken um den Standort, die Versicherung, Betankung und Wartung des Fahrzeugs machen müssen. Sie bezahlen für das Fahrzeug nur die tatsächlichen Nutzungszeiten und allenfalls einen Mitgliederbeitrag. Heutzutage sind wir es gewohnt, Dinge kostenlos kollektiv zu nutzen, statt sie zu besitzen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Google. Dies führt uns direkt zum dritten Transformationspfad, der Demotorisierung und Individualisierung des Stadtverkehrs.
Wie wirken sich die Trends der Deprivatisierung und Individualisierung auf den Stadtverkehr und den öffentlichen Verkehr aus? Sie wirken sich vor allem auf die Messung der Nachhaltigkeit eines Verkehrsmittels aus. Der Modalsplit, der in den letzten Jahrzehnten gemessen wurde, wird in Zukunft wohl nicht mehr das richtige Mittel dazu sein, denn so könnten neue Verkehrsangebote aus dem Blick geraten. Um die Nachhaltigkeit eines Verkehrssystems, unabhängig ob städtisch oder kantonal, zu messen, wären sicherlich differenzierte Erfassungen zusätzlich zum Modalsplit angebracht, z.B. der Anteil elektrischer und nicht-elektrischer Fahrzeuge am motorisierten Individualverkehr. Dadurch, dass der motorisierte Individualverkehr immer weiter deprivatisiert wird und ausserdem neue elektrifizierte Mobilitätsformen auf die Strasse kommen (man denke beispielsweise an E-Bikes und Scooter), individualisiert sich der Stadtverkehr noch stärker. Dies löst die traditionelle Dualität des kollektiven öffentlichen Verkehrs und des Individualverkehrs auf. Vielmehr erleben wir heute eine kollaborative Mobilität, in welcher diese beiden Kategorien miteinander verschmelzen. Bei der kollaborativen Mobilität werden Mobilitätsdienstleistungen von vielen Personen genutzt, welche das jeweilige Leistungsprodukt aber nicht besitzen. Die Gesamtmobilität verändert sich also und davon sind alle Akteure betroffen. Die Automobilhersteller und öffentlichen Verkehrsunternehmen passen ihr Angebot an und bewegen sich dabei jeweils auf dem Terrain des anderen, um die Herausforderungen des neuen Feldes der kollaborativen Mobilität zu navigieren. Ihr Kerngeschäft bleibt aber natürlich bestehen. Die SBB beispielsweise bietet mit Green Class verschiedene modulare Mobility-Bundles, in denen ein Elektroauto immer inbegriffen ist. Automobilhersteller streben verschiedene Entwicklungen an, um selbst auch zu Mobilitätsdienstleistern zu werden. Der TCS, der vom klassischen Autoclub zum Mobilitätsclub geworden ist, beteiligt sich an „carvelo2go“, der Schweizer Sharingplattform für elektrische Lastenvelos mit 25'000 Nutzern. Man sieht, alle Akteure, die in der Mobilität tätig sind, spielen mit. Welchen Einfluss haben diese Entwicklungen im öffentlichen Verkehr und motorisierten Individualverkehr des letzten Jahrzehnts auf die Infrastruktur? Dies ist eine spannende Frage, welche sich auch die staatlichen Entscheidungsträger stellen. In den kommenden Jahren wird hier sicher viel passieren. Die bestehende Infrastruktur wird von einer digitalen Infrastruktur überlagert werden und Verkehrslenkung sowie Verkehrsmanagement in einer „Augmented Mobility“ geschehen. Auch die neuen Fahrzeugkonzepte, die auf die Strasse drängen, und der Teilaspekt Elektrifizierung erfordern einen Wandel der Infrastruktur. Die Frage ist, wie sich diese Konzepte in die Fahrwege integrieren lassen. Wo gehören beispielsweise fahrzeugähnliche Geräte dazu? Sind sie der Autofahrspur oder dem Velostreifen zuzuordnen? Der Druck steigt kontinuierlich an. Dadurch, dass wir nicht mehr nur dual unterwegs sind, verschmelzen die Fahrwege der verschiedenen Fahrzeuge miteinander und Mobilitätsformen gehen ineinander über. In Städten wird über die Aufhebung von Parkstreifen diskutiert, um den Veloweg zu verbreitern sowie der Bau von Velobahnen in der Agglomeration erwogen. Für Betreiber und Entwickler von Infrastruktur stellen sich hier enorme Herausforderungen. Im öffentlichen Verkehr sind sowohl die rollenden als auch die ruhenden Verkehrsmittel ausserhalb des Schienenverkehrs von der wachsenden Zahl unterschiedlicher Mobilitätsgeräte betroffen. An Bahnhöfen und Bushaltestellen ist es das Ziel, möglichst viele Verkehrsangebote zu integrieren, da auch der ruhende Verkehr weiter wächst, weshalb man heute von Hubs statt von Haltestellen spricht. Sowohl die Infrastruktur des öffentlichen Verkehrs als auch jene des motorisierten Individualverkehrs sind stark betroffen und in den kommenden Jahren werden sich hier grosse Herausforderungen stellen. Was bedeuten diese Entwicklungen für Infrastruktur-Service-Provider? Ich sehe geringe Chancen für grössere Infrastruktur-Projekte in bestimmten Bereichen und freies Bauen, da es in Zukunft einfach immer schwieriger wird, dafür Mehrheiten zu finden. Stattdessen müssen die bestehenden Infrastrukturen besser gewartet, unterhalten und bedient werden und sich zu hochqualitativen Strukturen entwickeln, die den neuen Gegebenheiten angepasst sind. Die Elektrifizierung spielt dabei auch eine Rolle. Energieversorgung wird in Zukunft nicht mehr an Tankstellen geschehen, sondern an Ladestationen. In der Schweiz braucht es jetzt bereits elektrifizierte Rastplätze und viele öffentliche Parkplätze müssen zu Ladeplätzen werden. Der Unterhalt dieser Strukturen birgt für Anbieter grosse Chancen und Herausforderungen. Für die Infrastruktur-Betreiber sind dies ja auch wichtige Fragen und Aufgaben. Welche Leistungen müssen Anbieter im Infrastrukturbereich zukünftig erbringen können, um den neuen Mobilitätsbedürfnissen und veränderten Bedingungen zu begegnen? Mit dem digitalisierten Verkehr der Zukunft wird ein grosstechnisches System geschaffen, welches störungsanfälliger sein wird als der duale Verkehr. Da kann man sich die Frage stellen, wie krisen- und störungsresistent unser Verkehrssystem ist vor dem Hintergrund der durch die Klimaerwärmung immer heisser werdenden Städte, der immer extremeren Wetterbedingungen und wahrscheinlich auch künftigen Pandemien. Wie lassen sich die Verkehrsinfrastrukturen der Zukunft angesichts dieser Verletzlichkeit so gestalten und managen, dass hier eine Resilienz geschaffen werden kann? Das ist sicherlich eine entscheidende Herausforderung, mit der Infrastruktur-Betreiber konfrontiert sein werden. Genau hier können Anbieter ansetzen und passende Lösungen entwickeln, welche den veränderten Bedarf der Betreiber erfüllen. Schauen wir doch ein wenig in die Zukunft. Welche Anforderungen muss die Infrastruktur erfüllen, damit intelligente Autos flächendeckend genutzt werden können? Indem Verkehrsleitung und -messung auch intelligenter werden. Intelligente Ladekonzepte sind notwendig. Mit gutem Beispiel gehen Deutschland und Schweden voran. In Deutschland werden LKWs über Oberleitungen mit Energie versorgt, während es in Schweden Teststrecken mit in den Asphalt eingebauten Sonnenkollektoren gibt, was sicherlich auch «The Way To Go» für bestimmte weitere Länder sein wird. Insgesamt müssen Verkehrswege flexibler werden, damit sie bei Bedarf anders genutzt werden können. Eine Lehre ziehen wir bereits aus der Pandemiesituation: Plötzlich wurden ganze Fahrbahnen zu Velostreifen erklärt. Eine solche Wandelbarkeit von Fahrwegen wird in Zukunft noch verstärkt gefordert sein. Denken Sie, dass sich an den Megatrends, den drei Transformationspfaden die Sie uns aufgezeigt haben, in den nächsten zehn Jahren etwas ändern wird? Ich glaube nicht, dass sich an den Trends in der Mobilität viel ändern wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass sowohl die Dekarbonisierung als auch die Demotorisierung eine Folge der Verkehrspolitik sind. Die Städte möchten den Anteil aktiver Mobilität wie Velos und Fussgänger steigern. Regulatorische Entscheidungen sind hier deshalb auch richtungsweisend. Dass sich an den Transformationspfaden etwas ändern wird, ist eher unwahrscheinlich. Tatsächlich könnten stattdessen weitere hinzukommen, denn aufgrund der Umweltverschmutzung werden wir noch durch Krisen gehen, welche unter Umständen neue Themen aufwerfen. Allenfalls müssen wir in Zukunft lernen, wie wir mit weniger physischem Verkehr so glücklich leben können wie wir das jetzt mit einem relativ hohen Verkehrsaufkommen tun. Wann aber ist genug Verkehr? Wann gibt es denn genug Verkehr? Wie würden Sie persönlich und als Experte diese Frage beantworten? Um schneller voranzukommen, haben wir bisher Verkehrsträger ausgebaut und jede gewonnene Stunde in noch mehr Verkehr investiert. Dieses Denken und Handeln ist durch die Pandemiesituation beeinflusst worden und es entsteht ausser Entschleunigung auch allmählich Entmaterialisierung. Stoffliche Produkte und Güter werden zunehmend digitalisiert. Elektrofahrzeuge fahren ohne Benzin und bestehen aus weniger Material und weniger Bauteilen, was zukünftig eine noch stärkere Rolle spielen wird. Aufgrund der Krise der öffentlichen Gesundheit durften wir dieses Jahr weniger weit reisen, was eine Entwicklung dahingehend anstossen könnte, auch mit einer Entflechtung des globalen Verkehrs und weniger weiten Ferienreisen so erfüllt wie jetzt zu leben. Nachdem das grüne Wachstum in den letzten Jahren propagiert wurde, sollte es jetzt unser Bestreben sein, die komplette Gesellschaft zu ökologisieren. Denn was nützt es, jedes Benzinauto mit einem Elektroauto zu ersetzen, ohne dass ein Umdenken stattgefunden hat und bei jedem immer noch zwei Autos vor der Haustür die meiste Zeit stehen? Gerade auch der in den letzten Jahren enorm angestiegene Flugverkehr verlangt von uns, sich darüber Gedanken zu machen. Dann geht es also auch um die gesellschaftliche Genügsamkeit? Es wird spannend sein, zu beobachten, wie sich die Dinge nach der durchgestandenen Krise entwickeln. Fahren wir dann viermal im gleichen Jahr in die Ferien, um ein Defizit zu kompensieren? Wie reagiert der Mensch auf diese Erfahrung, die wir jetzt machen? Es kann gut sein, dass wir durch diese Übung in Sachen Suffizienz erkennen, dass es auch mit weniger geht und wir mit weniger gleich zufrieden sind. Können Sie uns als Verkehrssoziologe ein Bild der Zukunft zeichnen? Wo geht die Reise in Sachen Mobilität aus Ihrer Sicht hin? Eine Entwicklung, die im Moment in vielfältiger Weise versucht wird voranzutreiben, ist Mobility as a Service (MaaS). Dieses Konzept ist jedoch nur sehr schwer an den Kunden zu bringen, da für diesen die bereits vorhandenen Nutzungskonzepte, z. B. Apps für E-Trottinette, bedürfniserfüllend sind. Der Teufel steckt auch auf der Strasse. Das bedeutet, dass jedes einzelne Mobilitätsangebot schon funktionieren muss, bevor alle zusammen auf einer Grossplattform angeboten werden. Bei manchen Diensten würde es sich sogar gar nicht lohnen, sie in ein MaaS-Angebot zu integrieren, denn Mobilität ist bei vielen Menschen so routinisiert, dass diese nur den Zugang zu einer Handvoll von Anbietern nutzen und keine Grossplattform brauchen. Der Grundgedanke der Deprivatisierung bleibt dabei aber sicherlich bestehen. Ich denke vor allem an drei Mobilitätsformen, die in naher Zukunft dominieren werden: Mobilitätshubs mit flexiblen Angeboten vor Ort, autonome Fahrzeuge und Sharing Modelle. Wenden wir uns dem Bahnverkehr zu. Wie beurteilen Sie das Thema Smartrail? Smartrail hat auch viele Facetten. Aus meiner Sicht steht bei den Versuchen der Bahnbetreiber, das Geschäft zu digitalisieren, das Bemühen im Vordergrund, kundengerechter unterwegs zu sein und einen stärker individualisierten öffentlichen Verkehr zu erreichen. Das ist eine Entwicklung, die durch die Digitalisierung vorangetrieben wird und ist für die Schweiz als «Bahnweltmeisterin» sicherlich ein wichtiges Thema. Und was denken Sie über Cargo Souterrain? Dieses Konzept halte ich in der Schweiz für äusserst unterstützungswürdig, da eine Entlastung der Schienen und der Strassen zu schaffen ist. Wie spannend und aktuell das Thema ist, sieht man unter anderem daran, wie viele Akteure sich bereits angeschlossen haben. Grosse unterirdische Rohrsysteme für den Gütertransport zu bauen ist nicht allzu komplex, allerdings stellt sich für mich noch eine weitere Frage: Wie wird letztendlich die Feinverteilung in den Städten mit übergeordneten Nachhaltigkeitszielen geregelt? Auf diesem Gebiet muss noch einiges passieren. Ganz konkret: Wie stellen Sie sich ein typisches Mobilitätsverhalten im Jahr 2040 vor, allenfalls anhand eines Beispiels? Mein jetzt fünfjähriger Sohn wird wahrscheinlich keinen Führerschein mehr brauchen. Seine Familie wird er als 30jähriger Mann einmal mit einem geteilten vollautomatisierten Auto transportieren und dieses weder in die Garage stellen noch die Reifen wechseln. Er wird sicherlich auch zahlreiche Kilometer mit eigener Muskelkraft und/oder elektrisch unterstützten Velos zurücklegen, denkbar wären Lastenvelos für mehrere Kinder. Er wird kurzum all jene Fahrzeuge nutzen, welche den eigentlichen Zweck erfüllen, ohne Überkapazitäten zu schaffen. Auch die Art und Weise, wie wir arbeiten, wird sich ändern – zu einem Hybridarbeiten oder einer anderen Arbeitsform. Entsprechend wird das klassische Ferienmodell durch ein neues abgelöst werden. Mein Sohn wird hoffentlich nachhaltiger reisen, länger, dafür weniger häufig. Möchten Sie uns etwas mit auf den Weg geben? Die Zukunft ist nicht in Stein gemeisselt. Wie wir in Zukunft unterwegs sein werden, bestimmen wir alle gemeinsam. Dies ist eine wichtige Lehre der Zukunftsbetrachtung: Die Zukunft entsteht in der Gegenwart und diese wiederum bestimmen wir mit unserem Tun und unserem politischen Engagement. Wir dürfen also sehr gespannt sein auf die Entwicklungen, welche auf den Mobilitätssektor zukommen. Herzlichen Dank, Herr Beckmann, für Ihre interessanten Ausführungen und Ihre Zeit.
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